Rezension von Hans Mommsen

aus: Archiv für Sozialgeschichte, 44/2004, S. 704-706

Die eindrucksvolle Biografie von Nikolaus Groß, dem langjährigen Herausgeber der Westdeutschen Arbeiterzeitung und Mitverschwörer des 20. Juli 1944, entstand im Zusammenhang mit dessen Seligsprechung am 7. Oktober 2001, für die Vera Bücker, die mit einschlägigen Studien zur Geschichte des sozialen Katholizismus hervorgetreten ist, die wissenschaftlichen Vorarbeiten leistete. Sie schildert den politischen Lebensweg des 1998 in Niederwenigem geborenen Bergmanns und späteren Sekretärs des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter und dessen Weg in die Opposition gegen Hitler. Ihre ungewöhnlich sorgfältig recherchierte Studie stellt einen wichtigen und in vieler Hinsicht innovativen Beitrag zur Vorgeschichte des 20. Juli 1944 dar.

… Vera Bücker untersucht im Einzelnen die defensive Strategie, die Groß als Herausgeber der WAZ verfolgte, die nach dem Reichskonkordat auf Drängen von Bischof Berning in Kettelerwacht umbenannt wurde. Sie war in erster Linie darauf gerichtet, die kirchliche Autonomie in Glaubensfragen zu bewahren. Gleichwohl gelang es ihm immer weniger, die zunehmende Einschränkung des Bewegungsspielraums der WAZ zu unterlaufen,… . Trotz der auferlegten Vorzensur kam es Ende 1938 zum Verbot der Kettelerwacht. Bücker spricht von einem ständigen Balanceakt des Blattes in dem Bemühen, sich keine Blößen zu geben,… . … Trotz der partiellen Anpassung der Kettelerwacht. die Bücker als "ungewollte Stabilisierung" des NS-Regimes bezeichnet, und ihrer Beschränkung auf den Kurs der Glaubensbewahrung war der Zugriff des NS-Regimes nicht zu vermeiden.
Indem die Schriftleiterrolle beendet war, trat für Groß das Bemühen, die Gesinnungsfreunde des KAB zusammenzuhalten, in den Vordergrund. Das Kettelerhaus in Köln diente als Kontaktzentrum, doch dehnte Groß durch häufige Reisen seine Kontakte reichsweit aus. ….

Die Untersuchung von Bücker zeichnet anschließend ein eindrucksvolles Bild der konspirativen Verbindungen, in deren Mittelpunkt Groß als Sprecher des Kölner Kreises trat. Nach der Versetzung von Letterhaus in das OKW ergab sich seit 1942 ein regelmäßiger Kontakt mit Goerdeler. Daneben bestand nicht nur die Beziehung zu Delp und über Hammerstein zur Militäropposition, sondern auch zu führenden Repräsentanten des katholischen Lagers, …, aber auch zu SPD-Politikern und Gewerkschaftlern. … Groß war seit 1943 an den zentralen Beratungen zwischen den verschiedenen Widerstandskreisen beteiligt und hat maßgebend an den Vorschlägen für die Einsetzung von "Politischen Beauftragten" mitgewirkt.
Die Darstellung von Vera Bücker betritt auch insofern wissenschaftliches Neuland, als sie das breite Spektrum der innerhalb des Kölner Kreises vertretenen Konzeptionen ausleuchtet, … Für Groß stand die Wahrung der Rechte der Katholischen Kirche im Vordergrund, was die Schaffung einer interkonfessionellen Organisation allerdings nicht ausschloss. Zusammenfassend gelangt die Verf. zu dem Schluss, dass Groß und die Kölner Gruppe eher den Goerdeler´schen Vorstellungen anhingen und keine grundsätzliche Abkehr vom parlamentarischen System Weimarer Prägung vollzogen.
In ihrer Schilderung der unmittelbaren Reaktion von Groß auf das Attentat, seiner Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung betont die Verf., dass dieser frühzeitig von den Attentatsplänen wusste und dass er nach intensiven internen Erwägungen unter Mitgliedern des Kreises das Mittel des Tyrannenmords für gerechtfertigt hielt. Neben dem patriotischen Motiv stand hei Groß die Verteidigung des Glaubens und der Kirche im Vordergrund. Der Weg in den Widerstand, so die Verf., folgte der Konsequenz. "die Existenz- und Wirkungsmöglichkeiten für Kirche und Religion zu retten". Seine Verurteilung zusammen mit Delp und den führenden Kreisauern entsprang der ursprünglich verfolgten, dann gescheiterten Absicht Roland Freislers, dieses Verfahren in einen Kir-chenprozess umzuwandeln und die Kirchen unmittelbar des Hochverrats zu bezichtigen.

Die verdienstvolle Darstellung der Biografie von Nikolaus Groß wirft neues Licht auf die gesellschaftliche Verankerung der Bewegung des 20. Juli und den Anteil des katholischen Volksteils daran, aber auch auf das Versagen des hohen Klerus, der die Gläubigen im Widerstand allein ließ. Die Studie, der ein Essay über die Gefängnisbriefe und einige ausgewählten Texte von Groß vorangestellt sind, bemüht sich um größte wissenschaftliche Objektivität, verdeckt Schattenseilen und Kontroversen nicht und ist alles andere als eine Hagiografie, wie man sie fälschlicherweise aufgrund des äußeren Zusammenhangs mit der Seligsprechung hätte erwarten können. Sie ist ein unentbehrlicher Beitrag /u einer differenzierten Geschichte des Widerstands gegen Hitler.

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